INSTITUT FÜR STUDIEN DER MUSIKKULTUR

DES PORTUGIESISCHEN SPRACHRAUMES e.V. -  ISMPS




AKADEMIE

FÜR KULTUR- UND WISSENSCHAFTSWISSENSCHAFT - ABE


ISMPS

MUSIKINSTITUT SÃO PAULO             INSTITUTO MUSICAL DE SÃO PAULO

neue diffusion
ein dokumentationsprojekt




prof. dr. antonio alexandre bispo

50 jahre hochschullehre und forschung
kultur- & musikwissenschaft
ethnomusikologie & ästhetik

Das Musikinstitut São Paulo - Instituto Musical de São Paulo -, das seit 1980 in die private Universität São Judas Tadeu integriert ist, war eine der ältesten und traditionsreichsten Musikinstitutionen São Paulos. Neben dem zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegründeten Konservatorium für Musik und Drama - Conservatório Dramático e Musical - gehörte das Ende der 1920er Jahre gegründete Institut über Jahrzehnte nach der Anzahl von Schülern, Dozenten und Lehrangeboten zu den größten Institutionen des Musikunterrichts, aber auch der Lehre auf Hochschulniveau, in dem Generationen von Musikern, Musiklehrern und Dirigenten ausgebildet wurden.


Beide Institutionen gehörten von ihrer Gründung her zwei unterschiedlichen Epochen der Kulturgeschichte São Paulos und verschiedenen politischen und sozialen Kontexten an, die ihre Orientierungen und Entwicklungen, ihre Identitäten und ihr Bild im Verlaufe der Jahrzehnte prägten. Die Gründung des Konservatoriums vor dem 1. Weltkrieg fiel in eine Zeit, in der sich São Paulo durch die Industrialisierung in umfassenden Veränderungen befand, die die ehemalige Studentenstadt zu einem Wirtschaftszentrum machte, das europäische, vor allem italienische Migranten auf der Suche nach Arbeit anzog.


Die Intensivierung einer Entwicklung, die seit dem 19. Jahrhundert   durch den Aufschwung der Kaffeeplantagen im Landesinneren im Gang war, machte São Paulo zu einem der größten Zentren italienischer Migration, was sich auf die Physiognomie der Stadt und ihr Kulturleben auswirkte. Mehr als zur Kaiserzeit war unter der Republik ein Fortschrittsdrang nach internationalen Maßstäben vorherrschend. Wenn auch das Konservatorium eng mit der portugiesischen Musikfamilie Gomes Cardim verbunden war und über die Jahrzehnte verbunden blieb, war es auf die Musikzentren Italiens ausgerichtet. Brasilianische Dozenten wie João Gomes de Araújo (1846-1943) hatten nach dem Beispiel von A. Carlos Gomes (1836-1896) Studien in Italien durchgeführt. Andere renommierte Dozenten waren Italiener, wie Luigi Chiaffarelli (1856-1923) oder Agostino Cantù (18787-1943). Die Bestrebungen nach Veränderungen, die das Konservatorium um 1930 erfassten und mit dem Namen von Mário de Andrade (1893-1945) verbunden sind, entstanden aus der Auseinandersetzung mit Struktur und Denkweisen, die aus den Kontexten ihrer Gründung erwuchsen.


Das Musikinstitut São Paulos entstand in einem Jahrzehnt, als São Paulo bei den politischen Entwicklungen Brasiliens maßgeblich mit agierte, deren Markstein die Paulista-Revolution von 1924 war. Es war von seiner Entstehung her von Einstellungen und Identifikation mit der causa paulista in ihren verschiedenen Aspekten geprägt in einer Zeit erhöhter Zelebrierung der Paulistanität, die ihren Ausdruck in der Symbolik des Staates und der Stadt, in Hymnen und in Schulgesängen mit lokal- und regionalpatriotischen Texten fand. Die konstitutionalistische Revolution von 1932 konsolidierte endgültig diese Verbundenheit des Musikinstituts mit der Stadt und dem Staat. Mehrere von seinen Dozenten - allen voran João Gomes Júnior - komponierten Revolutionshymnen und Gesänge zur Entfachung der Liebe der Jugend für die Stadt, die in Schulen eingesetzt wurden. Sie dienten auch dazu, dass die Kinder der Migranten, die die Stadt so sehr prägten, sich mit ihr identifizierten und mental- und psychisch Paulistaner wurden.


Diese Einsetzung der Musik bei Schaffung eines von Paulistanität geprägten Zusammengehörigkeitsgefühls setzte bereits seit langem eingesetzte Bestrebungen kollektiver Schulerziehung durch den Gesang fort, was von der Orpheonischen Bewegung seit dem 19. Jahrhundert in Frankreich, Portugal, auf den Azoren und auch in Brasilien gefordert wurde. Der Orpheonische Gesang in dieser Funktion der Schaffung von Gemeinschaftsgefühl und Identität war in seiner lokalen und regionalen Ausprägung der Heimatliebe zu einer Region oder in   urbanem Kontext zu São Paulo viel älter als die nationalistische Bewegung der 1930er Jahren, die mit dem Namen von H. Villa-Lobos (1987-1959) verbunden ist.  


Villa-Lobos hätte bei dem Aufbau seiner Bewegung in autoritären Zeiten des Nationalismus ohne die bereits vorhandene Struktur der Orpheonischen Bewegung São Paulos nicht vorgehen können. Dennoch blieben bei aller Nähe zum orpheonischen Gedanken - Musik als Mittel der Schaffung eines kollektiven Gemeinschaftsgefühls und der Identifikation - die Unterschiede bestehen. Wenn die Orpheonische Bewegung im 19. Jahrhundert in Portugal - und bei ihrer Expansion in Brasilien - geistig auf dem tradierten Kult des Heiligen Geistes gegründet war, erfuhr sie eine Säkularisierung, die in São Paulo zu einer Kultivierung von Bindungen zu Land und Leuten, gleichsam zum nahen lokalen und regionalen Umfeld, führte, und wurde sie in den 1930er und 1940er Jahren unter Villa-Lobos ein Mittel zur Erziehung der Massen im Sinne eines völkisch orientierten Nationalismus eines autoritären Regimes und der Einheit unter dem Führungsprinzip. Das Musikinstitut São Paulos blieb dem Gedanken des Orpheonischen Gesanges in der Tradition São Paulos über die Jahrzehnte grundsätzlich treu. Als Sitz des Paulistanischen Konservatoriums für Orpheonischen Gesang - Conservatório Paulista de Canto Orfeônico - bildete es in diesem Sinne Generationen von Musiklehrern für den Unterricht im Orpheonischen Gesang in den Schulen der Stadt und des Staates aus. In Zusammenarbeit mit der Normalschule für die Ausbildung von Lehrern wurde das Konservatorium zur zentralen Ausbildungsstätte der Musiklehrerschaft in einem organisch strukturierten System von Modellschulen in der Hauptstadt und ihren Verzweigungen und Verbindungen zu den Schulen in allen Städten des Landesinneren, sowohl denjenigen mit längerer Vergangenheit als auch den im Verlaufe der Erschließung neu entstandenen. Während die Ausbildung von praktizierenden Musikern und privaten Musiklehrern die Hauptaufgabe des Konservatoriums für Musik und Drama sowie der von dort aus entstandenen Konservatorien in einem immer umfassenderen Netzwerk von Musikschulen in Stadtvierteln und Städten blieb, lag die Gewichtung des Musikinstituts São Paulo über die Jahrzehnte auf der Musikerziehung in den allgemeinen Schulen, vor allem den Gymnasien, die eng mit orpheonischen Auffassungen der bürgerlichen Erziehung und somit mit politischen, sozialen und zivilen Fragen verbunden war. 


Im Verlaufe der 1960er Jahre wurde die in Jahrzehnten gewachsene Struktur der Musikausbildung in den Konservatorien für den Privatmusikunterricht und der Musiklehrer für den orpheonischen Gesang in den allgemeinen Schulen von krisenhaften Umwälzungen erfasst. Verordnungen von übergeordnenten Behörden der Zentralregierung führten zu einer Demontage der von der Regierung São Paulos kontrollierten und überwachten Netzwerke privater Musikinstitutionen zugunsten einer Zentralisierung und Vereinheitlichung. Die bis dahin ausgestellten Diplome zur Lehrbefähigung verloren ihre Gültigkeit und mussten von dem zentralen Villa-Lobos-Institut erneut bestätigt werden. Die notwendige Anerkennung von Kursen auf Hochschulniveau, für die nur einige Institutionen die nötige Infrastruktur besaßen, regte die Absolventen der Konservatorien zur Fortführung ihrer Ausbildung an oder zwang sie dazu. Verlangt wurde die Revalidierung der Lehrbefähigung von den zahlreichen Musikerziehern in den Schulen des gesamten Staates, die ihre Ausbildung im Orpheonischen Gesang erhalten hatten.


Das Fach Orpheonischer Gesang wurde ersetzt durch die Musikerziehung und um ihre Anstellung und Berufsansprüche zu bewahren wurden Lehrer, die vielfach seit Jahrzehnten im Berufsleben standen, aus allen Städten des Bundesstaates zur Hauptstadt entsandt, um sich dort zur der Erlangung einer Lizenziatur fortzubilden, was zwei (kleine Lizenziatur) oder vier Jahre (volle Lizenziatur) in Anspruch nahm.


Das Musikinstitut von São Paulo, das zu den ersten gehörte, die den Rang einer Fakultät erhielten, wurde zum Hauptzentrum der Reformen. Über Jahrzehnte hatte es als Sitz des Conservatório Paulista de Canto Orfeônico ein umfassendes Netzwerk von Beziehungen zu Schulen der Stadt und des Gesamtstaates aufgebaut. In ihm wurden Lehrer ausgebildet und die Hochschulstudien angeboten, die zur Aufrechterhaltung ihrer Qualifikationen und Arbeitsplätze nötig waren.


Das Institut, das wie die Konservatorien durch die Entwertung seiner Kurse einen Niedergang erfahren hatte, erlebte nun eine einmalige Entwicklung und einen plötzlich eintretenden Aufschwung, der durch die Immatrikulation von mehreren hundert Musiklehrern der Hauptstadt und der zahlreichen Städte des Inneren des Staates verursacht wurde. Wenn auch nur von kurzer Dauer - die größte Anzahl der Studenten hatten nach einigen Jahren bereits die Revalidierung ihrer Lehrbefähigung erreicht -, wurde es Anfang der 1970er Jahre für die Entwicklung der Musik auf Hochschulebene nicht nur für São Paulo von zukunftsweisender Bedeutung. Die Erlangung eines Hochschulabschlusses am Musikinstitut hatten auch renommierte Interpreten, Dirigenten und Komponisten nötig, die die Etablierung des Musikstudiums an der Universität São Paulo anstrebten und in der Folge dort in der Lehre tätig wurden. Es muss stets in Erinnerung gebracht werden, dass das Anliegen, eine Musikabteilung an der Universität São Paulo zu gründen, um 1970 von Musikern und Dirigenten gehegt wurde, die keinen Abschluss einer geregelten Ausbildung besaßen. Die am Musikinstitut erlangten Diplome, die von der Universität anerkannt und dort eingetragen wurden, eröffneten die Möglichkeit der Anstellung für mehrere Dozenten der späteren Abteilung für Kommunikation und Künste (DECA) der Universität São Paulo.


Die ministeriellen Angaben und die Bestimmungen des Bundesrates für Erziehung sahen für die Lizenziatur im Curriculum des Hochschulstudiums Fächer vor, die sich verständlicherweise von denen des alten Fächerkanons der Lehrerausbildung im Orpheonischen Gesang unterschieden. Sie dienten u.a. dem Anliegen, Befreiungen vom Besuch bestimmter Fächer zu erschweren, die die Studenten schon in früheren Lehrgänge belegt hatten. Zugleich wirkten die neuen Bezeichnungen innovativ und zwangen zur Erneuerung von Perspektiven und Aktualisierungen.


Bei der Auseinandersetzung mit den vorgeschriebenen oder vorgeschlagenen Fächern und Fachbereichen ging es um die Frage, ob sie lediglich Umbenennung waren - so Struktur statt Theorie und Formenlehre, Musikethnologie statt Folklore und Ethnografie - oder ob sie Wissensbereiche bezeichneten, die nach ihrem Gegenstand der Betrachung, ihren Methoden, Zielsetzungen und Einordnungen in bestimmte Strömungen des Denkens und Forschens Neues darstellten. Bei aller Ungewissheit und verkürztem Verständnis einiger der neuen Fachbereiche als ledigliche Umbenennungen trugen die Debatten, die die Einführung der Lizenziatur Ende der 1960er Jahren begleiteten, zur Überprüfung der bisherigen Literatur, des bestrittenen Weges sowie zur Auseinandersetzung mit internationalen Tendenzen der Forschung und der Lehre und somit auch mit der internationalen Literatur bei.


Diese Auseinandersetzungen kamen den Bestrebungen zur Erneuerung der Denk- und Sichtweisen entgegen, die im Rahmen der Bewegung Nova Difusão seit Mitte der 1960er Jahre für eine Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf Prozesse eintraten. Die Abgrenzung von historischen, empirischen oder systematischen Fachbereichen sollte durchlässig gemacht werden. Überwunden werden sollten auch Grenzen und Trennungen von sozio-kulturellen Sphären, ethnischen Gruppen und gar Theorie und Praxis.


Da die Mehrheit der Studierenden seit langem im Schuldienst tätig waren, kam diese geforderte Interaktion von Studien, Forschung, Lehrtätigkeit und Praxis des Unterrichts in verschiedenen urbanen, sozio-kulturellen und ethnischen Kontexten ihren Bedürfnissen entgegen. Das Musikinstitut, das sich traditionell eng mit Fragen der Identität der verschiedenen Gruppen der Gesellschaft befasste, förderte die Auseinandersetzung mit den von ihnen erlebten Prozessen, sei es der Kulturbewahrung und -zelebrierung, der Kulturveränderung oder der Integration in kollektive Kontexte. Die Aus- und Fortbildung der Musikerzieher unter den neuen Vorgaben der Lizenziatur fiel in eine Zeit umfassender Wandlungen in der Stadt. Durch den zunehmenden Zustrom von Migranten aus dem Nordosten Brasiliens und die Entwicklung der Massenmedien gewann die Auseinandersetzung mit Fragen der Identität, auch der urbanen im Sinne der Paulistanität, die das Institut so sehr prägten, an Aktualität. Nicht nur neue Ansätze zur Betrachtung der komplexen Interaktionen in der Metropole und der urbanen Entwicklungen mussten im Sinne von Grenzen überschreitenden Prozessen gesucht, sondern auch die eigene Institution in ihrem Selbstverständnis überprüft werden. Eine Vorstellung von Paulistanität als Entität oder Wesen schien veraltet und musste durch eine prozesshafte Auffassung der Metropole in all ihrer Diversität ersetzt werden.

A.A.Bispo
Aus einem Interview mit der RTP
2006