INSTITUT FÜR STUDIEN DER MUSIKKULTUR

DES PORTUGIESISCHEN SPRACHRAUMES e.V. -  ISMPS




AKADEMIE

FÜR KULTUR- UND WISSENSCHAFTSWISSENSCHAFT - ABE


ISMPS

NEUE DIFFUSION              NOVA DIFUSÃO

prof. dr. antonio alexandre bispo

50 jahre hochschullehre und forschung
kultur- & musikwissenschaft
ethnomusikologie & ästhetik

neue diffusion
ein dokumentationsprojekt




1965/66 entstand in São Paulo eine Bewegung zur Erneuerung von Denk- und Sichtweisen in Kultur- und Musikstudien, die die Überprüfung der Ansätze und Gegenstände von Fachbereichen als ein Erfordernis der Zeit ansah.


Sie entstand aus Dialogen zwischen Absolventen und Dozenten der Fachbereiche Musikgeschichte, Folklore und Ethnographie sowie Morphologie bzw. Analyse des traditionsreichen Musikkonservatoriums Carlos Gomes, das sich im Vorbereitungsprozess der Umwandlung zur Musikfakultät Carlos Gomes befand. In den sich bildenden Gesprächskreisen wurden die Unzufriedenheit mit dem status quo des Musikstudiums und das zunächst vage Bestreben nach Erneuerung und Innovation artikuliert. In der Musikgeschichte suchte der junge Dozent Luís Antonio Rodrigues die als antiquiert empfundene Basisliteratur durch die kurz zuvor in portugiesischer Übersetzung erschienene Weltmusikgeschichte von Kurt Pahlen (1907-2003) als Basislektüre zur Orientierung zu ersetzen. Dieser österreichische Musikforscher, der führende Positionen in Buenos Aires bekleidete, pflegte seit den 1950er Jahren enge Kontakte zu Musikern und Institutionen São Paulos. Da in seiner Weltgeschichte der Musik Brasilien nicht oder kaum berücksichtigt wurde, war der brasilianischen Ausgabe ein umfangreicher Anhang des Musikkritikers und -historikers Antonio Caldeira Filho (1900-1982) beigefügt worden. Diese Tatsache führte vor Augen, wie wenig universell diese Weltgeschichte der Musik war und wie sehr die Sichtweise von Musikforschern wie Pahlen auf Europa zentriert war.


Die Beschäftigung mit der Musik Brasiliens stieß jedoch auch auf Probleme. Die wichtigsten Werke behandelten nicht die Musikgeschichte in Brasilien, sondern gingen von einer Musik aus, die aufgrund ihrer Charakteristik und Thematik als brasilianisch zu qualifizieren sei. Diese Musik mit nationalen Charakteristika – die aus der Anlehnung an die Folklore zu gewinnen seien – war in Werken von einigen Komponisten der Jahrhundertwende und vor allem bei solchen seit den 1920er Jahren anzutreffen. Die führenden Publikationen zur brasilianischen Musikgeschichte – wie die von Renato Almeida (1895-1981), Luís Heitor Correa de Azevedo (1905-1992) oder selbst Mário de Andrade (1893-1945) – waren nationalistisch geprägt, erschienen veraltet und galten unter den politischen Umständen des Neonationalismus der Militärregierung Brasiliens als verdächtigt. Es wurde dabei erkannt, dass diese Fokussierung die Gesamtentwicklung der Musik und des Musiklebens Brasiliens vor der Phase der nationalen Romantik und der nationalistischen Tendenzen nach dem 1. Weltkrieg als Extensionen bzw. Nachahmungen der Musik Europas erscheinen ließ und ihre Autoren als eurozentrisch herabgewürdigt wurden. Auch die Komponisten, deren Werke diese nationalen bzw. nationalistischen Merkmale nicht zeigten, wurden kaum oder nur kritisch gewürdigt. Nicht nur die akademischen, traditionalistischen Komponisten, sondern auch die Musiker und Musiktheoretiker, die den zeitgenössischen Tendenzen wie der atonalen Musik zu folgen versuchten, wurden verschwiegen oder kaum erwähnt.


Die Überwindung dieser Perspektivierung in der nationalistischen Musikgeschichtsbetrachtung, die zu Einseitigkeiten und zur Entwertung der Musikgeschichte vergangener Jahrhunderte führte – ausgerechnet auch des 19. Jahrhunderts, in dem Brasilien seine Unabhängigkeit gewann –, ließ die Notwendigkeit erkennbar werden, Leitgedanken und Kriterien der Historiographie zu überdenken. Dafür war die kritische Relektüre der Literatur zur Musikgeschichte Brasiliens  notwendig.


Die nationale und nationalistische Geschichtsmusikschreibung war eng mit der Folklore-Forschung verbunden. Durch die Fokussierung auf eine im Entstehen begriffene Musik mit brasilianischer nationaler Prägung, die durch die Verwendung von Elementen der Folklore erreicht wurde, war verständlich, dass sich die Komponisten selbst mit Folklore befassten. und mit den Musikhistorikern eng kooperieren mussten. Die Musikhistoriker begannen entwicklungsgeschichtlich ihre Darstellungen mit einer kurzen Erwähnung der Musik bei indigenen Gruppen und aus Mangel an historischen Quellen mit der Betrachtung von Spielen, Tänzen und Musikinstrumenten der Folklore, wie sie in der Gegenwart überliefert wurden. Damit erfolgten Projektionen der Folklore in die Vergangenheit, was auch die Folklore-Forschung theoretisch beeinflusste. Vor allem wurde bei den Überlegungen angemerkt, dass wichtige Bereiche des Musiklebens in der Historiographie nicht berücksichtigt wurden, wie das Blasmusikwesen, die Unterhaltungs- und Salonmusik sowie und vor allem die Popularmusik, deren Bedeutung in den 1960er Jahren durch die Entwicklung der Medien unübersehbar wurde.

Vom Fach Folklore/Ethnographie wurde auch die nationalistische Instrumentalisierung des Faches beklagt, das zuweilen auch als nationale Folklore bezeichnet wurde. Selbst die Einführung des Faches in ien war ein Ergebnis nationalistischer Kulturpolitik, die auf die 1930er Jahre zurückging. Die nationale und nationalistische Sichtweise hatte Einfluss auf die Deutung der Spiele, Tänze und Musikinstrumente. Viele von den tradierten Spielen, die als national galten, waren jedoch nachweislich trotz aller Unterschiede auch in anderen lateinamerikanischen Ländern festzustellen. Darüber hinaus wurde von der Mehrheit der Autoren streng unterschieden zwischen der eigentlichen Folklore, „echter“ Folk-Musik und Popularmusik, die entwertend als popularesk bezeichnet wurde. Dem Bereich der Folklore wurden auch die in der Musikgeschichte nicht berücksichtigten Musiksphären zugeordnet, die weder als Kunst- noch als Volksmusik galten, wie die Blasmusik und noch weniger die Popularmusik. Nach der Einteilung der Fachbereiche beschränkte sich die Musikgeschichte auf die Kunstmusik, in den Bereich der Folklore fiel die tradierte Volksmusik; die Formenlehre beschränkte sich wiederum auf die Kunstmusik, sodass populäre Musik in all ihren Aspekten keinen Platz fand.


Diese Situation brachte die Notwendigkeit einer Intensivierung der interdisziplinären Debatten zu Grundfragen der Lehre und Forschung in Musikgeschichte, Folklore/Ethnographie und Morphologie/Analyse ins Bewusstsein. Zunächst ging es nur um die Interdisziplinarität, die auch zu gemeinsamen Lehrstunden der Dozenten führte. So wurde beispielsweise der Cateretê von Oscar Lorenzo Fernandes (1897-1948) von den Musikhistorikern in Hinblick auf den Komponisten und sein Schaffen in seiner Zeit und seinem Kontext betrachtet, der Folklore-Dozent behandelte die Musik- und Tanztradition des Cateretê und der Dozent für Formenlehre versuchte die rhythmischen u.a. Elemente des Volkstanzes in der Tradition der Suite-Form zu analysieren.


Bald wurde erkennbar, dass sich die Bemühungen um die Lösung der festgestellten Probleme nicht auf die Interdisziplinarität beschränken durften. Es war nicht ausreichend, die Trennungen zwischen den Fächern durch Zusammenarbeit zu überwinden. Eine grundlegende Überprüfung der Ansätze in den Musik- und Kulturstudien war notwendig. Die Trennungen zwischen Hoch-, Volks- und Popularkultur, von E- und U-Musik, die mit Vorstellungen von Bildung, Erziehung, dem Elitären und Populären assoziiert waren, wurden als überholt erkannt. Die Entwicklung der Medien, die Veränderungen in allen Bereichen des Lebens in der sich rasch wandelnden Metropole mit ihrer sozio-kulturellen Diversität von Bevölkerungsteilen verschiedenster Abstimmungen riefen nach neuen Wegen im Denken und Wirken. 


Seit Anfang der 1960er Jahren wurde im Musikkonservatorium Oswaldo Cruz von Andrelino Vieira, einem Musikpädagogen, Dirigenten und Musiker, der aus traditionellen Kreisen peripherer Ortschaften stammte und dessen Werke vor allem bei Blaskapellen in kleineren Städten verbreitet waren, eine Marginalisierung von Musikern aus alten Musikerfamilien im Musikleben und in Musikstudien beklagt. Sie wurden in den Musikgeschichtsbüchern nicht erwähnt, obwohl die Blaskapellen Hauptträger des Kulturlebens in der Mehrheit der Städte Brasiliens nach der Abschaffung der Kirchenchöre und -orchester seit der Jahrhundertwende waren. Gerade in dieser Sphäre der sogenannten Kleinmeister entwickelten sich Musik- und Tanzformen, die für die Betrachtung der Geschichte der Popularmusik wichtig waren. 


Auch bei Studien in den verschiedenen Wissensbereichen sollte ein „Denken in Schubladen“ überwunden werden, das sich nach Kompartimenten und Kategorisierungen des Gegenstandes der Betrachtung orientierte, was besonders in der Formenlehre eindrücklich in Erscheinung trat. Der Blick sollte sich auf Prozesse richten und somit auf Bewegungen und Wandlungen.


Die Überlegungen und Diskussionen wurden ab 1966 in Vorträgen – u.a. vom Dozenten für Morphologie, der ein Grundbuch zum Thema vorbereitete und sich auch dem Jazz widmete – sowie bei Happenings fortgeführt. Eine große Anzahl von Konservatorien und Hochschulen wurde aufgesucht, um fortgeschrittenen Musikschüler und progressive Lehrer für die Erneuerungsbewegung zu gewinnen. Sie. entsprache auch den allgemeinen Bestrebungen der Jugend der Zeit. Die internationale Bewegung der jungen Generation in den von Kriegen und Konflikten geprägten 1960er Jahren sowie die Bestrebungen nach Freiheit und Änderung politischer Verhältnisse unter den einengenden Bedingungen eines Militärregimes in Brasilien förderten das Anliegen nach Überwindung von festgefahrenen Strukturen, von einengenden Normen, von einem Denken und Leben nach unreflektiert übernommenen Abgrenzungen. 


Für die anvisierte Orientierung der Studien nach Prozessen wurde von mitbeteiligten Naturwissenschaftlern als einprägsames Bild das Phänomen der Osmose aus Chemie und Physik vorgeschlagen. Es konnte bildhaft das Anliegen nach fließenden, durch Trennungsmembrane hindurchgehenden, sich wandelnden und interagierenden Prozessen in Kultur, Gesellschaft, in Wissenskulturen und in der Wissenschaft widerspiegeln. Die Beobachtung der Prozesse und ihrer Interaktionen, der Tendenzen im Denken und Fühlen, der Stimmungen stand als Vorbedingung für Analysen und Überlegungen im Vordergrund. 


Die Verfahrensweise ging von Beobachtungen und Erfahrungen der Gegenwart aus, die Studien waren somit empirisch orientiert. Beobachtungen verlangten Partizipation, vom Beobachter aktive Teilnahme und vom Teilnehmer aktive Beobachtung. Damit hingen Kulturanalysen und Wissensgewinnung zusammen, und die Kulturwissenschaft bzw. die Wissenschaft sozio-kultureller Prozesse war untrennbar mit der Erforschung der Wissenschaft selbst verbunden. Die Beachtung der Einbindung des Beobachters in Prozesse, in die Netzwerke und Strömungen des Wissens, in die er sich einfügt und an denen er mitwirkt, und seiner Kulturkonditionierung wurden als unabdingbar angesehen für die Auswertung der Studien selbst, der Wissensproduktion. Da der Beobachter selbst in die Prozesse einbezogen ist und an ihnen mitwirkt, sodass er auch Agent von Veränderungen durch Diffusion neuer Tendenzen und Innovationen in Denk- und Sichtweisen sein kann, sind Forschung, Erziehung und Aktivismus miteinander verflochten. Kunst und Musik stellen privilegierte Möglichkeiten dar zur Beobachtung von Veränderungen dieser Denk- und Sichtweisen, zur Auseinandersetzung mit ihnen, zur psychischen und mentalen Erfahrung und zur mitschwingenden Teilnahme. Bei den multimedialen Projekten und vor allem bei den Happenings wurden die vielschichtigen und vielseitigen Möglichkeiten der Partizipation in zugleich kreativen und kognitiven Prozessen erprobt. Dementsprechend entfachten sich die innovativen Bestrebungen durch die Mitwirkung von jungen Künstlern bei Ausstellungen und Diskussionen am Museum zeitgenössischer Kunst sowie der Fakultät für Architektur der Universität São Paulo. Wichtige Impulse gingen vom literaturwissenschaftlichen und kommunikationstheoretischen Denken, von der Poetry und dem Design aus. Ein vielbeachteter Kurs des Kultur- und Designtheoretikers Décio Pignatari eröffnete 1967 Perspektiven und bestimmte eine kommunikations- und medientheoretische Gewichtung der Studien und Überlegungen.

Zunächst lag der Schwerpunkt der Erneuerungsbewegung auf der Aktualisierung des Repertoires in Musikunterricht und -leben. Werke zeitgenössischer Musik, die kaum oder gar nicht bekannt waren, wurden in Studien, Konzerten und Vorträgen beachtet. Dieses Anliegen wurde vom Pianisten P. A. de Moura Ferreira (1940-1999) gefördert, der von einem längeren Studienaufenthalt in Deutschland Anregungen aus Donaueschinger Kursen und anderen Ereignissen der zeitgenössischen Musik mitbrachte. Herausragende Vertreter der Neuen Musik in Brasilien wurden in die Bewegung mit einbezogen. Dennoch gingen die Bestrebungen zur Erneuerung von Denk- und Sichtweisen über die Verbreitung zeitgenössischer Musik oder die Förderung progressiver Musikästhetik hinaus. Das Anliegen, Grenzen zwischen Hoch- und Volkskultur, zwischen sozio-ökonomischen Klassen und ethnischen Gruppen durchlässig zu machen, sowie die Öffnung zur Popularmusik konnten sich nicht auf einen elitären Kreis von Intellektuellen und Komponisten, die sich nach der Avantgarde richteten, beschränken. Der Begriff „Neue Musik“ wurde in dieser Einschränkung in Frage gestellt. Neu wäre eine Musik, die die ungeheure Dynamik gesellschaftlicher Prozesse der Metropole im Zeitalter der Medienkommunikation abbildete. Eine gemeinsame Debatte von Vertretern der zeitgenössischen Musik und empirischen Sozial- und Kulturforschern schien unabdingbar. Diese Zusammenarbeit verlangte nach   Öffnung von Perspektiven auf allen Seiten. Auch die Kulturforscher – einschließlich der Folkloristen – sollten sich den neuen Entwicklungen in der Metropole und in der Konsumgesellschaft stellen.


1968 wurde die Bewegung als Sociedade Nova Difusão ND in Form einer als gemeinnützig anerkannten Gesellschaft offiziell eingetragen. Damit konnten Studienprojekte, Forschungsreisen, Kurse, Veranstaltungen und Festivals mit Unterstützungen von Kulturinstitutionen, Firmen und Sponsoren durchgeführt werden. Zu ihren Zielen zählten:


1) Durch Studien und Analysen sollte die Gesellschaft in ihren Wandlungen („aculturamentos“, nicht Akkulturationen) wissenschaftlich begleitet werden. Die verschiedenen Gruppen sollten unterstützt werden in all ihren Kulturprozessen, bei der Bewahrung ihrer Traditionen und Identitäten, bei der Auseinandersetzung mit ihnen im metropolitanen Kontext und in einer von Massenmedien geprägten Gesellschaft, bei ihren Interaktionen mit Gruppen anderer Provenienzen, bei ihrer Integration und zugleich bei ihren Beiträgen zur sozialen und kulturellen Diversität, bei ihrer Repräsentation im Kulturleben und bei der Erziehung der neuen Generationen. Diese sollten zugleich ein Bewusstsein für die eigene Kulturkonditionierung entwickeln, Achtung vor der angestammten Kultur gewinnen und zugleich zur Öffnung gegenüber der Kultur und den Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen anderer Kulturkontexte angeleitet werden. Dieses Ziel galt nicht nur Gruppen europäischer und asiatischer Herkunft, sondern vor allem auch aus der Binnenmigration, vor allem aus dem Nordosten Brasiliens, sowie solcher mit afrikanischer Abstammung und marginalisierten Gruppen. 


2) Den Forschern, Intellektuellen und Vertretern des Kultur- und Musiklebens sollte bei der Analyse ihrer eigenen Kulturkondionierungen beigestanden werden. Die Strömungen und Netzwerke, in die sie sich einordneten, sollten durch Studien wertschätzend aufgedeckt werden, das Bewusstsein für die Vielfalt der Beziehungen zu internationalen und nationalen Persönlichkeiten, Traditionen und Institutionen sollte gestärkt und dadurch zur Überwindungen von Trennungen zwischen den verschiedenen Schulen, zum Dialog zwischen italienischen, französischen, deutschen, amerikanischen u.a. Studierenden, Forschern und Lehrern beigetragen werden. 


3) Da die Musik in ihrer privilegierten Funktion, Affekte zu bewegen, zu dieser Aufgabe der wertschätzenden Bewusstmachung von Kulturkonditionierungen und zugleich zur gegenseitigen Verständigung und Annäherung beiträgt, sollte ein Zentrum musikologischer Forschung eingerichtet werden. Gemäß dem Ansatz, Kultur- und Wissenschaftsforschung zusammenhängend zu betrachten, sollte dabei auch die Musikwissenschaft selbst in ihren Ansätzen sowie in der Positionierung ihrer Forscher Gegenstand der Aufmerksamkeit sein. 


4) Bei all diesen Zielsetzungen sollte eine ergebnisoffene, experimentelle Einstellung bewahrt werden.

In die Organisation der Arbeit wurden die studentischen Vertretungen und die Lehrerschaft mehrerer Musikkonservatorien, Hochschulen, Fakultäten, Museen und Kulturinstitutionen einbezogen. Der Chor von Studierenden und Absolventen der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität São Paulo wirkte maßgeblich bei der Gründungsfeier und bei anderen Veranstaltungen mit, wobei Fragen des Rechts, der Ethik, des Urheberrechts u.a. im Vordergrund standen. Ebenfalls trug die Mitarbeit von Chören anderer Fakultäten – wie der Medizin – zu einer Erweiterung des Spektrums der Fragestellungen bei. 


Besonders Studenten und Professoren der Fakultät für Architektur der Universität São Paulo wirkten maßgeblich bei der Verwirklichung der Zielsetzungen der Nova Difusão mit, da sie aufs Engste mit urbanologischen Studien und mit der kulturwissenschaftlichen Analyse der Metropole zusammenhingen. Die verschiedenen Gruppen der Gesellschaft, der europäischen Immigration sowie der Binnenmigration aus dem Nordosten und der Bevölkerungskreise afrikanischer Abstammung prägten bestimmte Stadtviertel, Straßen und Plätze. Die Eingemeindung benachbarter Ortschaften warfen Fragen der Identität, des Selbst- und Fremdbildes und des Geschichtsbewusstseins der Gemeinden auf, deren Erforschung und Zelebrierung zur Bereicherung der Diversität der Metropole und zur Steigerung der Lebensqualität ihrer Einwohner beitragen sollte. Dazu wurden sozio-kulturelle Netzwerke rekonstruiert und analysiert, um Wanderungen in der Großstadt zurückzuverfolgen und Handlungsprozesse der Ortschaften und historische Quellen in Familienbesitz aufzufinden. 


Diese Arbeit zur Stärkung der Identität urbaner Räume (identidades barriais) entsprach Anliegen der Zeit und wurde vielfach vom Kulturamt der Stadt unterstützt. Sie erweiterte sich mit Unterstützung des Kultursekretariats der Regierung São Paulos auf das Innere des Staates, auf Städte, die bis dahin nicht oder kaum in den Kultur- und Musikstudien berücksichtigt worden waren. Diese urbanologischen Studien entsprachen der Zielsetzung der Förderung prozessorientierter Forschung, da diese Orte im Verlaufe der Erschließung des Hinterlandes durch Verbindungs- und Verkehrswege, Eisenbahnen, Straßen, durch Migrationen bevölkert worden waren und sich durch die Intensivierung der Kommunikationsmittel im Wandel befanden. Das lokale und regionale Bewusstsein für die eigene Kulturentwicklung und die Auseinandersetzung mit ihr sollte durch Analysen der Diffusionsprozesse gestärkt werden. Dieses Anliegen wurde von Studien in den Fachbereichen Urbane Geographie und Methodologie der Geschichte der Philosophischen Fakultät der Universität São Paulo begleitet. 


Die Bestrebungen zur Erneuerung der Kultur- und Musikstudien durch die Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf Prozesse betrafen in erster Linie eine Überprüfung von Auffassungen und Ansätzen der Sozial- und Kulturwissenschaften, insbesondere der Volkskunde, die mit dem Museum für Volkskünste und -techniken (Folklore-Museum) São Paulo das wichtigste Forschungszentrum Brasiliens besaß. Die Debatte um den Begriff Folklore sowie um Gegenstand und Methoden der Forschung angesichts der urbanen Expansion, der Gesellschaftsveränderungen und der durch Kommunikation und Medien geschaffenen Bedingungen führte zu einer Distanzierung gegenüber traditionalistischen und nationalistischen Einstellungen und zu einer Hinwendung zur Alltagskultur. Das Museum erlangte mit der Forschung seiner Mitarbeiter eine Vorreiterrolle der Alltagskulturforschung. Das Studium von Familien- und Hauskultur, Familiengeschichte und Abstammungskultur und deren Veränderungen, die vor allem für Migrantenfamilien von Bedeutung waren, setzte sich als Pflichtaufgabe für Forscher, Lehrer und Lernende in den Kulturstudien durch. 


Durch ihre Zielsetzung war die Bewegung international und von den verschiedenen Migrantengruppen ausgehend auf internationale Prozesse ausgerichtet. An ihr nahmen Studierende und Intellektuelle unterschiedlicher ethnischer und kultureller Herkunft und Kulturkonditionierung teil. Sie kam den Bedürfnissen herausragender Persönlichkeiten des Kultur- und Musiklebens entgegen, die Europäer waren oder in Europa und Nordamerika ihre Ausbildung erhalten hatten und die die Bestrebungen und Aktivitäten unterstützten. Zu international renommierten Künstlern und Forschern, die Brasilien besuchten, wurden Beziehungen hergestellt. Durch diplomatische Vertretungen verschiedener Länder wurde Kontakt zu Persönlichkeiten und Institutionen des Auslands aufgenommen. Im Rahmen der Bewegung konnten somit euro-brasilianische Prozesse unter verschiedenen Konfigurationen – zu Deutschland, den Niederlanden, Frankreich, der Schweiz, aber auch zu Ländern Osteuropas, vor allem Polen und Jugoslawien – studiert werden. Die grenzüberschreitenden Bestrebungen galten auch den interamerikanischen Beziehungen, vornehmlich zu Uruguay, Argentinien, Chile, Peru und Venezuela.


1970 wurde das unter Staatsaufsicht stehende Musikkonservatorium Jardim América zum Sitz der Nova Difusão und dessen Zentrum musikologischer Forschungen. Dort konnten die neue Ansätze bei der Reform des Lehrplanes und der Ausbildung der Musikschüler erprobt werden. Vorträge renommierter Vertreter zeitgenössischer Tendenzen des Musikschaffens trugen zu Debatten über die sozial- und kulturwissenschaftlich orientierte Musikforschung und -erziehung bei. Neue Musik und Musik des 20. Jahrhunderts wurden in den Lehrplan aufgenommen und ein Laboratorium für Synästhesie errichtet. Diese Debatten entwickelten sich parallel zu den Bestrebungen zur Erneuerung der Hochschulausbildung für Gymnasial-Musiklehrer durch die Einführung der Lizenziatur in Musikerziehung an Fakultäten. Sie wurden bei Veranstaltungen in den Musikhochschulen sowie bei Kultur- und Kunststiftungen in São Paulo, in der Hauptstadt Brasilia, in Rio de Janeiro, Salvador und anderen Städten Brasiliens geführt.